Geschichten zum Nachdenken
Geschichten zum Nachdenken
Frank Klein
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Eine Weihnachtsgeschichte (Frei nach Charles Dickens)

Es war ein Tag wie jeder andere. Abgesehen davon, dass bald Weihnachten sein würde. Aber das war ihm egal. Wie jeden Morgen stand er missmutig auf und brachte den Tag mit der gleichen fehlenden Begeisterung hinter sich. Abends ließ er sich in seinen Sessel fallen und schaltete den Fernseher ein. Doch das Programm war scheußlicher als die kitschige Deko in den Läden. Nachdem er einige Kanäle durchgewechselt hatte, blieb er bei einem Film hängen. Erst nach einigen Minuten erkannte er, dass es sich dabei um eine moderne Form von Charles Dickens Weihnachtsmärchen handelte. Mürrisch schaltete er den Fernseher aus und brummelte: „Bleibt man denn nirgends davon verschont? Ständig dieses stille Nacht Getue.“ Mit seiner Laune auf einem Tiefpunkt, der weit unter den winterlichen Temperaturen lag, schlurfte er in die Küche und machte sich einen Tee. Damit bewaffnet kroch er in sein Bett und zog die Decke über den Kopf. Bald darauf war er auch schon eingeschlafen. Lang dauerte sein Schlaf allerdings nicht an, denn irgendetwas zupfte ständig an seiner Decke. Von der andauernden Störung genervt machte er die Nachttischlampe an. Erstaunt sah er neben seinem Bett ein kleines Mädchen stehen, das ihn lächelnd ansah. „Wer bist Du und was machst Du hier?“, fragte er mit verschlafener Stimme. Sie entgegnete: „Ich bin der Geist der ver…“ Er unterbrach sie: „Einen Moment bitte. Du willst sagen, dass Du der Geist der vergangenen Weihnacht bist?“ Immer noch lächelnd nickte das Mädchen, während er fortfuhr: „Und Du willst mir zeigen, dass meine Abneigung gegenüber Weihnachten völlig unbegründet ist? Ihr Nicken wurde energischer. Er dagegen sah sie nur unbewegt an und dachte bei sich: „Entweder ist das jetzt eine versteckte Kamera oder ich träume. Egal, mich legt keiner herein.“ Laut sagte er: „Warum nicht? Aber lass es mich doch selbst versuchen.“ Sie legte den Kopf schief und sah ihn fragend an. „Ich meine, wenn wir schon in die Vergangenheit reisen, warum nicht in meine? Das müsste doch den größtmöglichen Eindruck auf mich haben. Meinst Du nicht?“ Sie strahlte über das ganze Gesicht. Plötzlich überfiel ihn ein Schwindelgefühl und der Anblick des Mädchens verschwamm vor seinen Augen. Als er wieder zu sich kam, standen sie in der alten Wohnstube seiner Kindheit. Seine Mutter kochte gerade das Weihnachtsessen, während sein kleiner Bruder - der noch ein Baby war - in der Wiege schlief. Dann ging die Tür auf und er - als Kind - stapfte herein, gefolgt von einem Schwall eiskalter Winterluft. Als er gerade erklären wollte, dass er so spät heim kam, weil sein Chef ihn nicht gehen ließ und ihm mit einem Rausschmiss gedroht hatte, falls er es doch wagen sollte, fuhr ihn die Mutter an: „Mach gefälligst die Tür zu! Es zieht!“ Dabei drehte sie sich nicht einmal zu ihm um. Wie ein geprügelter Hund schlich er zum Kleiderständer, hing seinen Mantel an den Haken und setzte sich an den Tisch. Doch das Unwetter war noch nicht vorbei. „Was fällt Dir ein, so spät nach Hause zu kommen? Meinst Du, ich habe nichts Besseres zu tun als auf Dich zu warten? Den ganzen Tag schufte ich, während Du Deinem gemütlichen Job nachgehst! Das bisschen Büro-Gehocke bringt uns nicht mal genug ein, um davon Essen zu kaufen! Du bist genau wie Dein Vater! Dieser Versager versäuft noch sein letztes bisschen Verstand. Bei diesen Worten wurde die Tür erneut aufgerissen und sein Vater kam herein. Als Erstes schrie er dabei seine Frau an. „Redest Du schon wieder von mir?“ Sie keifte zurück: „Natürlich! Oder siehst Du noch ein anderes verlottertes Wrack in diesem Raum?“ Puterrot angelaufen stapfte er auf seinen Sohn zu, packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich heran. Der Gestank nach Alkohol raubte ihm fast die Sinne. „Hast Du etwa Deine Mutter schon wieder auf mich gehetzt?“ Ohne eine Antwort abzuwarten schleuderte er ihn zurück auf seinen Stuhl und wandte sich zur Tür. „Mir ist der Hunger vergangen. Ich geh in die Kneipe.“ Seine Frau schnappte fast über: „Ich habe den ganzen Tag versucht, mit den paar Kröten, die Dein Sohn nach Hause bringt, etwas Anständiges zu kochen und Du willst das Geld lieber versaufen?“ Er murrte nur: „Deinen Fraß kann doch eh keiner runterwürgen.“ Stapfte hinaus und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Sie brach weinend neben dem Herd zusammen, das Baby brüllte wie am Spieß und der Junge saß zusammengekauert, wie ein Häufchen Elend, am Tisch und wünschte sich weit weg von diesem Ort. Als er dies alles aus den Augen eines Erwachsenen sah, hatte er das dringende Bedürfnis, zu dem Jungen zu gehen und ihn in den Arm zu nehmen. Doch soweit kam es nicht, denn schon verschwamm das Bild vor seinen Augen und er lag wieder in seinem Bett und das Mädchen stand vor ihm. Diesmal jedoch war ihr Lächeln einer starren Maske aus Verzweiflung gewichen und dicke Tränen kullerten ihre Wangen hinab. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich von ihm ab und rannte zur Tür hinaus. Er widerstand dem Drang ihr zu folgen und fiel in einen unruhigen Schlaf. Am nächsten Morgen wachte er wie gerädert auf. Erst nach und nach fiel ihm das nächtliche Ereignis wieder ein. Doch er tat es als Traum ab, der durch den gesehenen Film entstanden war. So quälte er sich durch einen weiteren Tag seines Lebens, vergrub sich in Arbeit, um sich von anderen Gedanken abzulenken. Abends im Bett hoffte er inständig, dass es wirklich ein Traum war und er nicht wieder durch Besuch belästigt werden würde. Sein Wunsch ging nicht in Erfüllung. Pünktlich zur zwölften Stunde hörte er das verräterische Tapsen von Schritten. Eine junge Frau stand neben seinem Bett. Normalerweise hätte er sich über eine solche Überraschung gefreut, doch diesmal war ihm die Gesellschaft zuwider. „Schon wieder Damenbesuch.“, murrte er. Sie schien von seiner Reaktion wenig überrascht zu sein und entgegnete mit einem leicht sarkastischen Unterton. „Wenn es dem gnädigen Herrn beliebt, kann ich ihn auch in männlicher Gestalt heimsuchen.“ Er winkte müde ab. „Nein, lass mal. Es ist schon in Ordnung. Darf ich annehmen, dass Du die gegenwärtige Weihnacht repräsentierst und Dich für mein Verhalten Deiner kleinen Schwester gegenüber revanchieren willst?“ Sie zog fragend eine Augenbraue nach oben. „Außerdem, wie siehst Du aus? Du kannst gar nicht der Geist der neuzeitlichen Weihnacht sein. Wo ist der Glanz und der Glamour? Du müsstest doch eigentlich unter der Last von optischen Spielereien schier zusammenbrechen.“ Nun wanderte auch die zweite Augenbraue hoch und gesellte sich zur Ersten. Er setzte sich im Bett auf und meinte begütigend. „Lass uns in die Stadt gehen, dann zeige ich Dir, was ich meine.“ Ohne ein weiteres Wort schnippte sie mit den Fingern und die Szene um ihn herum veränderte sich schlagartig. Statt in seinem Bett war er nun auf der taghell erleuchteten Straße. Trotz der späten Stunde herrschte noch reger Betrieb. Er brauchte einen Moment, um seine Beherrschung wieder zu finden, dann bedeutete er ihr, ihm zu folgen. Dozierend schritt er voran, an bunten Schaufenstern vorbei, die vollgestopft waren mit Spielsachen, Naschkram und allem, was das Herz begehrte. Die Menschen drängelten sich an den Kassen und es wurden Unsummen für billigen Tand ausgegeben, nur um sich gegenseitig in der Größe des Geschenks zu übertreffen oder um widerwillig der Verpflichtung eines Gegengeschenks nachzukommen. Ab und zu blieben sie an Häusern stehen, hinter deren Mauern Kinder mit Spielsachen überhäuft wurden, um ihnen keine Herzlichkeit geben zu müssen. In anderen Häusern wurden die Kinder mit elektronischen Kindermädchen namens Fernseher, Computer und Spielkonsolen ruhig gestellt, damit sie keine Aufmerksamkeit benötigten. Viele Hausbesitzer führten einen wahren Beleuchtungskrieg dessen Stromverbrauch die Kraftwerke an die Leistungsgrenzen brachte und deren Abwärme der Arktis einen Sommer mitten im Winter beschwerte. Zugleich gaben sich die Leute der Völlerei hin, begleitet von Spendenaufrufen wie: „Brot für die Welt, aber die Wurst bleibt hier!“ Ganz nebenbei und unbemerkt wurden mehrere Tannenwälder abgeholzt, um den Bäumen beim Austrocknen zusehen zu können. Über all dem schwebten sphärische Klänge, die eine „stille Nacht“ Lügen straften und die einem gigantischen Verwaltungsapparat weitere Unsummen in die Kassen spülten. Bedauerlich nur, dass ein Großteil des Geldes dafür aufgewendet werden musste, um es von den Künstlern fernzuhalten. Konsum, Kommerz, Kitsch, wo man auch hin sah. Es war überall, es verfolgte jeden und der Wahn begann alljährlich bereits mit dem Ende des Sommers, doch so schnell wie dieses Mal, endete er noch nie. Denn plötzlich saß er wieder in seinem Bett, um sich herum die kargen Wände seines Zimmers. Neben ihm stand schweigend die Frau, doch ihr Gesicht war blass und ihre Hände zitterten. Bevor er etwas sagen konnte, wandte sie sich bereits ab und ging hinaus. Auch diesmal hielt ihn etwas zurück und so versank er abermals in einen nicht sonderlich erholsamen Schlaf. Der nächste Morgen erwies sich noch quälender als der voran gegangene und so stürzte er sich noch mehr in die Arbeit. Doch so sehr er sich auch dagegen wehrte, fand dieser Tag doch irgendwann sein Ende. Rastlos schlich er durch die Stadt. Er wollte nicht nach Hause gehen. Die Trostlosigkeit seines Heims war ihm fremd geworden. Das Lichtermeer spendete auf seine eigene Art zumindest ein wenig Trost. Als er jedoch dann, an eine Hauswand gelehnt, von der Polizei aufgesammelt wurde, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich dem Unvermeidbaren zu fügen. Wie die Nächte zuvor erschien auch in dieser Nacht eine Gestalt an seinem Bett. Eine Greisin. Er nickte nur müde. „Ich weiß, Du bist der Geist der künftigen Weihnacht und willst mich meiner Sterblichkeit gemahnen.“ Sie nickte. „Na gut, bringen wir es hinter uns.“ Er wartete, doch nichts geschah. Dann erst bemerkte er den erwartungsvollen Blick der alten Frau. „Du meinst, wir sollen zu Fuß gehen?“, entfuhr es ihm. Wieder das schweigende Nicken. Seufzend zog er sich an, und ging hinaus. An der Treppe reichte er ihr die Hand, die sie dankbar ergriff und gemeinsam wanderten Sie zur Stadtgrenze. Ihr Weg führte sie zum städtischen Friedhof. Er wusste, wohin das führen würde, denn die Geschichte von Charles Dickens kannte er nur zu gut. Doch auch diesmal wollte er sich sich nicht so leicht führen lassen. Sanft aber bestimmt zog er sie zu der Kirche, die zu dem Friedhof gehörte. Gemeinsam gingen die beiden hinein. Der Lärm von draussen drang nur gedämpft nach Innen und das grelle Licht der elektrischen Beleuchtung wich hier dem sanften Licht von Kerzen. Er erinnerte sich an Momente seiner Kindheit, die schön waren. Ihm fiel ein, wie er als junger Mann gerne Kirchen besucht hatte, um ihre Architektur zu bewundern. Selbst in der Hektik größter Arbeitslast war er doch regelmäßig - wenn auch nur kurz - in den alten Gemäuern gewesen. Gemächlich schlenderte er durch die geräumige Halle. Langsam glitt sein Blick über die Gemälde und Figuren. Er nahm nichts davon bewusst wahr, aber es erfüllte ihn mit Wehmut. Eine harsche Stimme riss ihn aber jäh aus seinen Gedanken. Sie schien dem uniformierten Mann zu gehören, der geradewegs auf ihn zu ging. „Sagen Sie mal, können Sie nicht lesen?“ Doch bevor er antworten konnte, ertönte eine weibliche Stimme hinter ihm: „Es tut mir leid, es war zu dunkel und ich wusste nicht, dass die Kirche geschlossen ist.“ Der Mann in Uniform schlug einen versöhnlicheren Ton an. „Nein, mir tut es leid, schließlich ist Weihnachten. Es ist nur so, dass ich bald meinen Job als Kirchenwächter verlieren werde.“ Die Frau fragte: „Wie kommt das?“ Der Wärter entgegnete: „Die Kirche wird geschlossen. Sie wissen schon. Kostensenkung und so. Die neuen Besitzer wollen ein Museum oder so etwas daraus machen.“ Die Fremde schüttelte den Kopf. „Das ist doch nicht möglich.“, doch der Wärter nickte: „Doch, ich fürchte, das ist es. Weihnachten hat seinen eigentlichen Sinn verloren und ohne Glauben braucht niemand Kirchen. Wissen Sie, Weihnachten war nur der Anfang vom Ende. Die Kirchen glaubten, sie müssten sich anpassen, modern werden. Doch damit konnten sie auch keine neuen Gläubigen für sich gewinnen, sondern verloren sogar die Alten. Dabei ging es nie um den Pomp und das Brimborium. Das lenkt ohnehin nur vom eigentlichen Inhalt ab. Es waren all diese Dogmen und Riten. Die Streitereien um die Wahrheit. Damit hat Weihnachten nun wirklich nichts zu tun. Das Fest ist eine Erneuerung der Hoffnung. Wer sich mit dem christlichen Gedankengut nicht anfreunden kann, könnte genauso gut das Licht des neuen Tages feiern. Der Gedanke, den wir im Herzen tragen ist es, der zählt.“ Dann schwieg er traurig und die Frau seufzte. Mit mühsam gefasster Stimme fuhr er fort: „Aber das alles ist nun bedeutungslos. Weihnachten ist tot.“ Bei diesen Worten spürte er eine Berührung und als er hinab sah, blickte er in die traurigen Augen der Greisin. Sie sah noch älter aus als am Beginn ihrer Begegnung. Auch ihr Gesicht war eingefallener und ihr Gang schwerfälliger. Draußen wandte sie sich von ihm ab und marschierte auf ein offenes Grab zu. Offensichtlich war ihr bewusst, dass ihre Zeit vorbei war. Doch anstatt sie gehen zu lassen, folgte er ihr und hielt sie zurück. Diesmal wurde er durch nichts gehindert. Er legte Ihr die Hand auf den Arm und sagte: „Geh nicht.“ Sie sah auf zu ihm und hatte ein gütiges Lächeln auf den Lippen. „Warum nicht? Du hattest von Anfang an Recht. Weihnachten ist vorbei. Du hast uns alle überzeugt.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe Euch nur davon überzeugt, was ich mir all die Jahre selbst eingeredet habe. dass Weihnachten furchtbar sei. Alles das, was mir widerfahren ist, war alltäglich. Doch an Weihnachten kam es mir noch schlimmer vor und ich habe diesen Tagen die Schuld daran gegeben. Das war falsch, das habe ich nun begriffen.“ Ein Lächeln huschte über das verwitterte Gesicht. „Deine Einsicht ist löblich, dennoch lag in Deiner ursprünglichen Meinung Wahrheit. Weihnachten, so wie es von Vielen erlebt wird, ist nicht das, was es sein soll. Deine Verbitterung über das Fest rief uns, doch Du hast uns gezeigt, dass es Gründe dafür gibt und dass die Gleichgültigkeit der Massen noch viel Schlimmer ist, als Deine offene Abneigung. Letzten Endes hast Du noch immer Gefühle, auch wenn sie in eine traurige Richtung weisen. Selbst jetzt, wenn Du umkehrst, sind da draußen noch so Viele, die uns nicht fühlen wollen oder können.“ Er schüttelte energisch den Kopf. „Nein, so darf es nicht enden. Ich will nicht, dass es so endet. NEIN!“ Mit dem Schrei auf den Lippen erwacht er in seinem Bett. Wie ist er dorthin gekommen? Wo ist die Kirche, die alte Frau? Ein Blick nach draußen zeigt ihm, dass es bereits heller Morgen ist. Er springt aus dem Bett und geht ins Bad. Nach dem Auswaschen blickt er in den Spiegel und sagt mit dem Brustton der Überzeugung: „Ich - Christian Stern - werde dafür sorgen, dass es nicht so endet!“ Entschlossen verlässt er das Haus in Richtung seiner Arbeit. Anstatt jedoch an seinen Arbeitsplatz in der Buchhaltung zu gehen, sucht er die Redaktion auf. Dort führt er ein langes Gespräch mit dem zuständigen Redakteur. Dieser bringt ihn daraufhin zu seinem Abteilungsleiter, der nach einem weiteren Gespräch dem Plan zustimmt. Schon am nächsten Morgen, dem 24. Dezember, ist ein mehrseitiger Artikel zu lesen. Den Abend kann Christian kaum noch erwarten und sobald es beginnt zu dämmern, macht er sich auf den Weg zur Stadtkirche. Dort klopft er an die Tür. Es dauert eine Weile, bis ihm der Kirchenwächter die Tür öffnet. „Ja, was wollen Sie?“ Christian lächelt freundlich: „Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gerne herein kommen und eine Kerze anzünden.“ Der Wächter meint daraufhin: „Tut mir leid, wir haben keine Kerzen mehr. Es ist nicht genügend Geld da, um welche zu kaufen.“ Doch Christian lässt sich davon nicht beirren: „Das macht nichts. Ich habe eine mitgebracht.“ Da der Pförtner nun keine Einwände mehr vorbringen kann, die den Besucher davon abbringen würden zu gehen, lässt er ihn ein. Der Fremde tritt an den Altar, rollt eine mitgebrachte Plane aus und stellt seine Kerze darauf, die er dann auch anzündet. Etwas befremdlich kommt dem Wächter das Ganze schon vor, aber dann setzt er sich neben den Mann und gemeinsam verharren Sie einige Minuten schweigend. Dann hält er es nicht mehr aus und durchbricht die Stille mit einer Frage: „Was soll das mit der Kerze?“ Christian blickt auf und meint: „Ich möchte das Licht der Hoffnung in die Dunkelheit tragen.“ Der Wächter sieht ihn verständnislos an. Ohne ein weiteres Wort reicht Christian ihm die Zeitung. Dort zeigt er ihm den Artikel. Halblaut liest der andere die Worte: „Entzündet das Licht der Hoffnung … murmel, murmel, … bringen Sie eine Kerze … murmel, murmel, … Geist der Weihnacht …“ Nachdem er fertig ist, gibt er die Zeitung zurück und meint: „Deshalb sind sie hier?“ Christian entgegnet ruhig: „Ja.“ Doch der Wächter ist noch nicht zufrieden: „Und Sie glauben, dass noch mehr kommen werden?“ Christian zuckt lächelnd mit den Schultern: „Ich hoffe es.“ In diesem Moment klopft es an der Tür und ein junger Mann tritt ein. Auch er hat eine Kerze bei sich. Er entzündet sein Mitbringsel an der bereits brennenden Kerze und stellt es daneben. Kurz darauf pocht es wieder und eine ältere Frau mit einem kleinen Jungen an ihrer Seite betritt die Kirche. Nach und nach gesellen sich immer mehr Leute hinzu. Manche bleiben länger, Andere stellen ihre Kerze hin und verweilen nur kurz und wieder andere kommen mit leeren Händen, aber man sieht das Bedauern in ihren Gesichtern, nichts mitgebracht zu haben. Trotz des ständigen Kommens und Gehens herrscht eine andächtige, fast heilige Stille. Nach und nach leert sich der Raum, bis nur noch Christian und der Wächter übrig sind. Viele Kerzen sind bereits heruntergebrannt, doch noch immer ist die Luft von der Körperwärme und den Kerzen der Besucher erwärmt. Nur langsam erwachen beide wie aus Trance und sehen einander an. Schweigend reichen sie sich die Hände und drücken sie herzlich. Dann fällt ihr Blick zur Tür an der drei Gestalten stehen. Ein Junge, ein junger Mann und ein Greis. Sie lächeln überglücklich und im nächsten Augenblick sind sie verschwunden. Der Wächter blickt zu Christian und meint: „Haben Sie das auch gesehen?“ Doch der lächelt nur wissend. Der Wächter fragend: „Sie kennen die Drei nicht wahr?“ Christian zuckt mit den Schultern: „Kennen ist zuviel gesagt. Wir sind einander begegnet.“ Der Wächter lächelt nun auch: „Sie scheinen einen tiefen Eindruck hinterlassen zu haben.“ Christian entgegnet: „Ich denke, wir haben heute alle etwas gelernt.“

Das blinde Sehen

Kürzlich besuchte ich wieder meinen Freund, um gemeinsam mit ihm spazieren zu gehen. Als wir aus dem Haus traten, hob er den Kopf und meinte: „Der Himmel ist schön heute, nicht wahr?“ Ich hob ebenfalls den Kopf und sah nach oben. Der Himmel war grau und voller Wolken. Ich muss dazusagen, dass mein Freund blind ist und so fragte ich ihn, wie er das meinte. Er entgegnete, dass er die Wärme der Sonne im Gesicht spürt. Daraufhin sah ich genauer hin und merkte, dass tatsächlich in der Wolkendecke ein Loch war, durch das die Sonne genau auf uns herunter schien. Ich schwieg erst lächelnd und sagte dann nur: „Ja, der Himmel ist wunderschön.“ So machten wir uns auf den Weg und ich dachte bei mir, wie seltsam es doch manchmal ist, zwischen Richtig und Falsch, zwischen Wahrheit und Lüge oder zwischen Gut und Schlecht zu unterscheiden. Vielleicht hätte ich sagen können, dass es nur ein kleiner Sonnenstrahl war, der uns ins Gesicht leuchtete. Aber was hätte es genutzt, außer die Freude zu zerstören? Er fragte sogar so, als ob er wissen würde, wie der ganze Himmel in Wahrheit aussah und insgeheim froh war, es nicht zu sehen, sondern vielmehr das kleine Licht spüren zu können, das mir selbst zuerst gar nicht aufgefallen war. Gerade so, als würde er meine Gedanken erraten, sagte er: „Egal wie schwer die Wolken auch sind, dahinter scheint doch immer die Sonne.“ Ich sah ihn verdutzt an und lachte dann los. Er ließ sich davon anstecken und als wir uns wieder beruhigt hatten, dankte ich ihm, dass er mir das Licht gezeigt hatte. Er winkte jedoch ab und meinte, dass der Unfall ihm zwar die Fähigkeit zu sehen nahm aber nicht seine Vorstellungskraft. So reicht ihm seit damals ein kleiner Strahl, um sich an die Sonne zu erinnern. Er formulierte es schöner, indem er sagte, dass er das Licht im Herzen trägt und solange er die Glut nicht verlöschen lässt, genügt ihm ein Funke, um es immer wieder neu zu entfachen und sich an seinem Glanz zu erfreuen. Dieser Gedanke half ihm auch, nicht in Selbstmitleid zu versinken, sondern sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren, denn die Sonne der Hoffnung ist ebenso da, auch wenn wir sie durch die schweren Wolken der Sorge gerade nicht sehen.

Der Herrscher

Die Geschichte, welche ich nun erzähle, ereignete sich in einem friedlichen Land, dessen Name mir leider entfallen ist. Der dort herrschende König ist ein weiser und gerechter Mann, der mit Umsicht und Güte regiert. Das Volk liebt ihn und er schätzt es sehr, einmal im Monat in die Schenke der Hauptstadt zu gehen, um dort aus erster Hand zu erfahren, wie es um sein Reich bestellt ist und wie seine mannigfaltigen Entscheidungen das Leben der Bevölkerung beeinflussen. So kam es, dass just an dem Tag, an dem seine Majestät wieder einmal die Wirtschaft betrat, ein alter Wanderer an einem der Tische nahe der Theke saß. Als der Wirt die Ankunft des Herrschers bemerkte, rief er hocherfreut: „Seht Leute, wer wieder unser Wirtshaus beehrt. Steht alle auf und erweist unserem gütigen Herrscher Ehre.“ Nachdem er geendet hatte, verbeugte er sich so tief, wie sein wohlgenährter Bauch es zuließ. Die Leute folgten seinem Beispiel, nur der Alte musterte den Neuankömmling mit hochgezogener Augenbraue und wandte sich uninteressiert wieder seinem Essen zu. Als der Wirt dies bemerkte, wandte er sich flüsternd an ihn und sagte: „Hey, alter Mann. Warum zeigt Ihr keine Ehrerbietung vor dem König?“ Stahlblaue Augen musterten den Wirt, als er ihm leise antwortete: „Warum sollte ich das tun?“ Der Wirt schnappte nach Luft: „Das meint Ihr doch wohl nicht ernst?“ zischte er, „Er ist der König, ein weiser und nachsichtiger obendrein. Er hat uns Frieden und Wohlstand gebracht, der nun schon seit vielen Jahren anhält.“ Der Reisende blickte weiter unverwandt den Wirt an, der dem Blick auswich und sagte: „Ihr sagt es, guter Mann. Er hat EUCH das alles gebracht und darum sehe ICH keine Veranlassung mich vor ihm zu verneigen.“ Der König, der die Szene in gebührendem Abstand verfolgt hatte, sah dass für den alten Mann die Debatte beendet war und so trat er an die beiden heran und fragte: „Guten Abend die Herren, gibt es ein Problem, welches meine Person betrifft?“ Der Wirt wurde schlagartig leuchtend rot im Gesicht und stammelte: „Nein, nein… Majestät… äh… ganz sicher nicht Majestät… es… es… ach verflixt! Der sture Alte hier… er weigert sich, Euch Respekt zu zollen… den Ihr ganz ohne Frage verdient… ja genau!“, er holte Luft. Der Herrscher hörte sich schweigend an, was der dicke Wirt vorzubringen hatte und nickte bedächtig. Dann wandte er sich dem Sitzenden zu und fragte: „Wollt Ihr dem noch etwas hinzufügen?“ Der Angesprochene hob den Kopf und fing den Blick des vor ihm Stehenden ein. Die Leute die dabei waren (oder zumindest jemand kannten der dabei war) behaupteten, dass zwischen den beiden Männern Blitze gezuckt hätten, als sich ihre Blicke trafen und ein lautes Knistern in der Taverne zu hören war (welches aber - realistischeren Zeitgenossen zufolge - nur vom Feuer im Kamin stammte). Nachdem sie kurz ihre Blicke gemessen hatten, gab der Alte zurück: „Nur eines möchte ich sagen: Ich habe in meinem ganzen Leben mein Haupt weder vor Herrschern, noch vor Göttern gebeugt, nur vor einer Sache… und so Ihr mir beweisen könnt, dass ihr diese Tugend besitzt, bin ich bereit mich in ehrlicher Demut vor Euch zu verneigen.“ Nachdem er geendet hatte, lächelte der Monarch: „Wahrlich, Ihr seid ein Mann mit Prinzipien und denen will ich nicht im Weg stehen. Offen gestanden, lege ich keinen Wert darauf, ob man mir Demut zeigt oder nicht, denn letzten Endes sind wir doch alle nur Menschen. So gehabt Euch wohl und weiterhin gute Reise.“ Als sich der Regent gerade zum Gehen wandte, erhob sich der Alte mühsam mit Hilfe seines Wanderstocks und neigte das Haupt: „Majestät, aus Euren Worten spricht die Weisheit des Respekts. Ihr akzeptiert meine offenkundige Missachtung Eures Standes und bestätigt mich sogar in meinem Tun, weil Ihr den Geist der Freiheit darin erkanntet… fürwahr Ihr seid ein außergewöhnlicher Mann. Darum wünsche ich Euch eine lange und erfolgreiche Regentschaft, auf dass Euer Land weiterhin so erblüht wie bisher, denn Ihr wisst ja: Die Größe eines Herrschers wird nicht an der Zahl seiner Armee, seiner Untergebenen oder der seiner Feinde gemessen und auch nicht an der Größe seiner Ländereien oder Schätze sondern nur an der Weisheit und Umsicht mit der der regiert.“

Der Weise und die Wahrheit

Einst fragte ein Mann einen Weisen: „Oh Ehrwürdiger, sagt mir, was ist Wahrheit?“ Der Weise entgegnete ihm: „Wahrheit ist ein geschliffener Diamant: Spitz, kristallklar und hart. Wie beim Edelstein offenbart sich ihre Bedeutung erst in der Betrachtung der vielen Facetten. Denn je nachdem, wie man sie dreht und von welcher Seite man sie beleuchtet, sieht man unterschiedliche Dinge in ihr. Wahrheit ist immer auch Auslegungssache. Ebenso sehen wir die Dinge mit anderen Augen, wenn wir die Wahrheit durch die Brille der Erfahrung betrachten. Abhängig davon, welche wir gerade aufhaben.“ Nachdem er geendet hatte, sah er in den Augen seines Gastes, dass dieser seinen Worten nicht folgen konnte. Darum versuchte er es mit einer Geschichte: Der Meister hörte eines Tages, wie seine Schüler sich zankten. Da ging er hinaus, um zu erfahren, was passiert sei. Sie sagten, dass sie in Streit darüber gerieten, ob und wie mit dem Alter die Weisheit kommt. Der Meister antwortete: „Die Weisheit des Alters ist eine Flasche Wein, die in ein Glas gegossen wird.“ Seine Schüler standen ratlos da und fragten, was er denn damit sagen will. Doch der Meister entgegnete nur: „Denkt darüber nach und lasst uns morgen reden. Ich bin müde.“ Dann ging er ins Haus. Am nächsten Tag fragte er seine Schüler, was bei ihren Überlegungen denn nun herausgekommen sei. Der erste Schüler sagte: „Der Wein verdeutlicht Reife. Sind die Trauben gut, wird auch der Wein gut. Sind die Trauben schlecht, wird er Essig. So hängt die Weisheit des Alters von Erfahrungen ab, die man im Laufe des Lebens gemacht hat.“ Der Meister nickte und ließ den zweiten Schüler reden: „Die Flasche steht für das Leben. War es voll von Erfahrungen, kann man viel heraus giessen, war es leer, wird auch die Weisheit ausbleiben.“ Dann wandte er sich dem dritten Schüler zu, der sagte: „Das Glas bedeutet begrenzte Menge und so groß wie das Glas ist, soviel Wein kann ich aus der Flasche entnehmen. Auch der Mensch kann nur begrenzt Weisheit aus seinem Leben behalten.“ Der Meister schmunzelte, drehte sich um und wollte ins Haus gehen. Doch seine Schüler baten wie aus einem Mund, dass er ihnen sagen solle, wer von ihnen denn nun Recht hatte. Doch der Meister sagte nur, dass jeder auf seine Weise Recht hatte und Weisheit nicht dadurch kommt, dass man anderen nachplappert, sondern selbst seinen Sinn in den Dingen erkennt. Als der Weise ans Ende seiner Geschichte gekommen war, meinte sein Besucher: „Ihr wollt mir also sagen, dass es keine allgemeine Wahrheit gibt?“ Der Weise nickte: „Mir scheint, Ihr habt verstanden. Wahr ist alles, was Ihr für wahr erachtet. Darum hütet Euch vor jenen, die Ihre Wahrheit als die einzig Richtige anpreisen.“

Der Weise und die Zukunft

Ein Mann kam zum Weisen und fragte ihn, ob er in die Zukunft sehen könne. Der Weise nickte, was den Mann sehr erstaunte. Wie genau die Vorhersagen denn wären, wollte er nun wissen. Der Weise nahm eine Sanduhr und sagte: „Dort oben der Sand, das ist die Zukunft und unten, ist die Vergangenheit.“ Der Mann belächelte diese simple Wahrheit, doch der Weise fuhr unbeirrt fort: „Dazwischen liegt der Moment. So ist es auch mit der Wahrsagerei.“ Der Mann fragte verwirrt: „Was meint Ihr damit?“ Der Weise erklärte ihm: „Wahrsagen bedeutet, zu bestimmen, welches Sandkorn wann durch das Glas rinnt. Je weiter oben oder unten es im Glas liegt, desto unbestimmter ist die Vorhersage. Je weiter es sich dagegen der Mitte nähert, umso genauer kann man sagen, wann das Ereignis eintritt. Manche Sandkörner bleiben sogar oben im Glas liegen und dann schüttelt man eben ein wenig das Glas, auch oft, um dem Zufall ein wenig nachzuhelfen. Im Sand der verronnen ist, kann auch nicht mehr sicher bestimmt werden, welches Sandkorn wann durchgelaufen ist, wohl aber schätzen, indem man herausfindet, in welcher Tiefe es liegt.“ Der Mann wirkte ernüchtert: „Ihr meint, Ihr könnt Ereignisse erst sicher vorhersagen, wenn sie passieren?“ Der Weise nickte freudestrahlend: „Genau.“ Nun machte sich Enttäuschung auf dem Gesicht des Mannes breit:“ Aber das könnte ja sogar ich und dabei hatte ich gehofft, etwas von Euch lernen zu können.“ Der Weise sah ihn begütigend an und fragte: „War Euch denn bewusst, dass Ihr dazu in der Lage seid?“ Der Mann antwortete: „Nein, zumindest habe ich es nicht als Wahrsagen empfunden.“ Nun lächelte der Weise: „Nun, somit seid Ihr doch ein Stück weiser geworden.“ Als der Mann gerade die Behausung des Eremiten verlassen wollte, sagte dieser noch: „Nehmt einen gut gemeinten Rat von mir mit auf den Weg: Viele gehen von mir und sind enttäuscht, weil sie nicht das bekommen haben, was sie erhofften. Doch bin ich kein Gemüseverkäufer am Markt. Ich bin ein Gärtner, der Samen verkauft. So wie ihr ein Bauer seid, der mit dem Samen reiche Frucht ernten kann, wenn er ihn in fruchtbaren Boden gibt. Lasst den Gedanken, den ich Euch gab reifen. Der Baum der Erkenntnis wächst in jedem von uns. Auch wenn die Früchte der anderen verlockender aussehen, so wissen wir doch nicht womit sie genährt wurden. Manch einer holte sich schon einen verdorbenen Magen an einer giftigen Frucht, die ihm mit Neid und Missgunst überreicht wurde. Ein Same dagegen ist unschuldig wie ein Kind und es liegt in unserer Hand Nutzen daraus zu ziehen, denn selbst Gift kann in kleinen Mengen heilsam sein.“ Der Mann drehte sich noch einmal um, bedachte den Weisen mit einem Abschiedsgruß und sagte: „So lebt den wohl weiser Mann und seid bedankt für die Lehren. Wiewohl Eure Abschiedsworte mehr Nutzen für mich in sich bergen als das, was ich für mein anfängliches Ansinnen erhielt.“ Damit verließ er den Weisen und machte sich auf den Heimweg. Wie der Alte versprochen hatte, begann sein Kopf bereits bei dem Spaziergang zu arbeiten und Gedanken rankten sich durch seinen Geist. Der Weise aber saß seinerseits sinnierend da und murmelte: „Nicht nur Euch ergeht es so, dass Ihr nicht erhaltet, was Ihr wollt, sondern das was Ihr braucht.“ Anschließend versank er in Meditation, um seinerseits Lehren aus dem gerade Erlebten zu ziehen. Denn dies war sein Lohn. Jeder der zu ihm kam, brachte neue Erkenntnisse mit sich. Mit jedem Besucher in seinem Haus, bekam er neue Einblicke in das Trachten, Fühlen und Denken der anderen Menschen, das ihm half, sich selbst zu reflektieren, zu reifen und weiser zu werden. Denn nichts und niemand ist zu gering, um nicht davon zu lernen.

Der Weise und der Fluss

Der weise Alte ging mit seinem Schüler eines schönen Morgens am Fluss spazieren. Auf einmal blieb der Alte stehen. Der Junge sah ihn erwartungsvoll an, da er eine Geschichte erwartete. Er wurde nicht enttäuscht. Vorsichtig setzten sich die beiden ins Gras und sahen über den Fluss. Man konnte das andere Ende nur erahnen, da der Strom sehr breit war. Der Alte deute mit seinem Finger zum anderen Ufer und sagte: „Siehst Du diesen Fluss mein Junge? Er ist wie das Leben. Ein ewiger Kreislauf. Und siehst Du das Boot dort mitten auf dem Fluss? Das könntest Du oder Ich sein. Wir sind alle nur Boote auf dem Fluss des Lebens. Egal wie stark wir rudern. Wir werden doch stetig zum Meer gespült.“ Der Weise seufzte auf und blickte wehmütig zum Boot, bevor er fortfuhr: „Der Mann dort auf dem Boot ahnt nichts davon, dass wir hier sind. Er ist auf seinem Boot wie in einer eigenen Welt. Er ahnt nicht was um ihn herum vorgeht und es interessiert ihn auch nicht. Er ist zu sehr damit beschäftigt, durch die Gefahren des Flusses zu kommen, als dass er sich die Zeit nehmen könnte, das Ufer zu betrachten. Doch, auch wenn er es versuchen würde, so könnte er doch nichts erkennen, weil das Ufer zu weit entfernt ist. So ist es auch mit uns Menschen. Wir versuchen über unsere kleine Welt hinauszublicken in die Unendlichkeit des anderen Ufers. Manchmal treibt uns der Fluss ein Stück Holz oder etwas Anderes vom Ufer zu und in uns erwacht die Sehnsucht nach diesem Ort, von dem wir kleine Stücke erhalten, aber das wir doch nur erahnen können. Wie viele Erkenntnisse der Mensch auch erhält, ständig wird er auf der Suche nach dem Ursprung sein. Er sucht nach allem und erhält nichts. Wenn er aber nach nichts suchen würde, hätte er vielleicht die Möglichkeit alles zu finden. Die Erkenntnis liegt hinter dem Nichts. Das Nichts ist nicht das Ende, sondern der Anfang. Wie kannst Du vom Universum erwarten, dass es Dir antwortet, wenn Du ihm nicht zuhörst und ständig selber redest? Mach Deinen Geist frei, hör auf zu denken. Denke an Nichts. Nur ein leeres Gefäß kann gefüllt werden. Öffne Deinen Geist dem Universum, höre ihm zu, dann wirst Du alles erfahren, was Du wissen willst.“ Dann schwieg der Alte und der Junge horchte angestrengt. Er war so bemüht etwas zu hören, dass er überhaupt nicht bemerkte, wie der Alte schmunzelte. Doch dann sah er es und begann zu schmollen. „Ihr macht Euch lustig über mich, Meister.“ Doch der Alte entgegnete ihm nur ruhig: „Weißt Du mein Junge, ich habe nur gelächelt, weil Du so angestrengt gelauscht hast, aber man kann das Universum nicht zum Reden zwingen. Genauso gut könntest Du den Wolken befehlen, von der Sonne wegzugehen. Alles kommt zu seiner Zeit.“ Ungeduldig fragte der Junge: „Aber woran erkenne ich, dass es soweit ist?“ Der Alte sagte nur: „Du wirst es wissen. Genauso wie Du weißt, dass Du hungrig oder müde bist. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist und Du bereit bist zuzuhören, dann wirst Du alles begreifen, was ich Dich gelehrt habe. Du wirst dann selbst zum Meister und einen Schüler haben, dem Du Dein Wissen weitergibst. Dann wird der Kreis von neuem beginnen. Dein Schüler wird auch vor dem Nichts stehen, so wie Du jetzt und auch ihm wird das Universum antworten, wenn er bereit ist zuzuhören. So ist das Leben, so und nicht anders und das ist gut so.“ Langsam erhob sich der Alte und der Junge half Ihm dabei. Dann streckte er sich nochmals und sagte: „Lass uns heimgehen, die Sonne geht bald unter und die Nächte sind doch noch ziemlich kühl.“ Und so gingen die Beiden den Weg, den sie gekommen waren, wieder zurück. Ein alter Mann und ein kleiner Junge. So verschieden wie zwei Menschen nur sein können und doch sind sie sich so ähnlich wie nur irgend möglich. Sie beide verbindet der Weg, auf dem sie gehen. Der Weg zur Erkenntnis der Welt. Vielleicht beschreitest auch Du Ihn einmal und möglicherweise begegnest Du auch den beiden. Wenn ja, grüße sie von mir und wünsche ihnen alles Gute. Das ist das Beste was Du ihnen tun kannst.

Wie die Sterne an den Himmel kamen

In einer anderen Welt, zu einer anderen Zeit, als das Firmament noch völlig leer und schwarz war, glaubten die Menschen anders als heute. Für sie gab es nicht nur Götter, sondern auch zwei Wesen die Großmutter und Großvater genannt wurden. Die Großmutter Natur ist eine alte Existenz, die aus dem Wollknäuel der Welt das Leben strickt und der Großvater Zeit löst die Fäden ganz langsam wieder auf und wickelt das Garn wieder zur Weltenkugel. Großmutter hat ein gütiges, lachendes Gesicht und scheint des Tags warm auf uns herab, während sie von der Welt den Urstoff nimmt und mit ihren Strahlen an uns strickt, bis wir vollendet sind. Großvater dagegen ist blind und des Nachts kann man sein Auge über den Himmel wandern sehen, darum ist es ihm auch gleich, wer oder was wir sind und so nimmt er gleichmäßig von allen, um es wieder der Welt zurückzugeben, bis wir wieder eins sind mit der Welt und aufs Neue entstehen können. Da Großvater die Zeit ist, wird seit jeher der Lauf seines Auges als das Maß gesehen, mit dem der Jahreslauf in Monate geteilt wird. Doch neben der Zeit hatten die Völker kein Maß für die Orientierung und irrten ziellos umher. So kamen sie eines Tages zusammen und berieten, was zu tun sei. Man beschloss, die Götter um Rat zu fragen. Waren sie doch die Kinder und somit die Ersten, die von den beiden Alten geschaffen wurden. Ein jeder betete zu seinen Göttern und diese gaben ihnen folgende Antwort: „Überall auf dem Weltenknäuel leben unsere Kinder, die Enkel der Alten. Findet sie und sie werden Euch den Weg weisen.“ So machten sich alle Völker auf die Suche und um einander nicht zu verlieren, zogen sie als Karawane um die Welt. Jeder Enkel den sie fanden, konnte sie zum Aufenthaltsort des Nächsten führen und so spürten sie mit der Zeit alle Enkel auf. Eines Tages war es dann vollbracht und alle Enkel waren versammelt. Die Menge, die auf dem weiten Feld ihr Lager aufgeschlagen hatte, war unüberschaubar und doch lag über der Gemeinschaft ein stetiger Frieden. In der darauf folgenden Nacht, hob ein gewaltiges Brausen an und dunkle Wolken zogen auf. Es blitzte und donnerte, so sehr, dass selbst der Mutigste Furcht im Herzen verspürte. Doch die Enkel beruhigten sie: „Habt keine Angst, Euch wird kein Leid geschehen. Das was Ihr vernehmt, ist der Pfad zum Firmament, der sich gerade formt.“ Mit diesen Worten erhob sich der erste langsam in die Luft, dicht gefolgt vom zweiten, dritten und so weiter. Bis sich die ganze Schar vom Boden gelöst hatte und in den Wolken verschwand. Blitze umzuckten sie und jeder der getroffen wurde, begann in einem überirdischen Licht zu strahlen. Nachdem der Letzte von der dichten Wolkendecke verschluckt wurde, trat auf einmal völlige Stille ein. Der Himmel öffnete sich und gab den Blick frei, auf ein wundervolles Bild. Das finstere Schwarz der Nacht war einem samtenen Dunkel gewichen, das von tausend und abertausend kleinen Lichtpunkten durchzogen war. Ehrfürchtig blickten die Völker empor und besahen sich das Wunderwerk. Sie löschten alle Fackeln und Feuer, um das Lichtermeer dort droben besser sehen zu können. Die Herzen aller waren von Seligkeit erfüllt und zum Gedenken an diese Nacht wird seit dem jedes Jahr in dieser Nacht kein Licht entzündet und man geht zur letzten Stunde hinaus und gedenkt dem Geschenk der Götter, die ihre Kinder zu ihren Großeltern schickten, auf dass sie allen lebenden Wesen künftig den Weg weisen.

Die Geschichte vom Königsgebäck

Es war einmal in der Stadt Backrabah. Dort lebte ein alter Sultan, der ein rechtes Leckermaul war und Süßspeisen jeder Art über alles liebte. Doch so reichhaltig die Vielfalt auch war, es war nichts dabei, was ihn noch so recht begeistern konnte und so rief er denn einen Wettbewerb aus, an dem ein jeder sich beteiligen konnte. Der Preis war nichts Geringeres als die Hand seiner Tochter und das Erbe seiner Krone. Doch die Aufgabe war hart, denn es galt dem Sultan ein Gebäck zu kredenzen, wie er es zuvor noch nie gekostet hatte. Viele versuchten sich an der Aufgabe, doch so raffiniert die Künste der Zuckerbäcker auch waren, immer mussten sie erfolglos von dannen ziehen. So verging ein ganzer Monat und ein Tag, als der Sohn eines Müllers vor den Herrscher trat. Er trug einen groben Weidenkorb über den ein schlichtes Leinentuch gelegt war. Tief verneigte er sich und sagte: „Herr, ich bringe Euch ein Geschenk.“ Der Sultan stand von seinem Diwan auf und lüftete das Tuch, um das Gebäck zu begutachten. Sein Blick zeigte deutlich die Enttäuschung, die er beim Anblick dieses schlichten Gebäcks empfand, doch als er sich über den Korb beugte und daran roch, erhellte sich seine Miene. Eilig hieß er seinem Diener ein Messer zu bringen und ein Stück davon abzuschneiden, damit er es kosten könne. Nachdem er einen Bissen zu sich genommen hatte, verdrehte er die Augen in seliger Wonne. Sogleich rief er seinen Leibarzt zu sich, der auch probieren sollte und dieser lobte die gesundheitsfördernde Wirkung. Der hinzugekommene Küchenmeister pries die vielfältige Verwendbarkeit der Speise, welche in ihrer Schlichtheit zu nahezu allem gereicht werden könne. Selbst der Papagei ließ seinen Keks fallen und knabberte an dem neuen Futter. Was es war? Ihr habt es wohl alle schon erraten… ja, es war einfaches Brot. Und als der Sultan eines Morgens die Backstube betrat, und dabei zusah, wie die kleinen Brötchen - gleich der Sonne - goldgelb im Ofen aufgingen, verkündete er voll Freude: „Vom heutigen Tage an, soll mein Reich als ‘das Land der aufgehenden Brötchen’ bekannt sein, auf dass ein jeder für alle Zeit sich an den Segen dieser Spezialität erinnern möge. So entstand auch der Brauch, dass man einem Menschen, dem man Glück und Wohlstand wünscht, ein selbst gebackenes Brot schenkt, auf dass er niemals Hunger leiden möge.

Der fliegende Teppichhändler

Der Teppichverkäufer Shik Sha’bah war ein gerissener Geschäftsmann und verkaufte billige Webstücke als teure Teppiche. Eines Tages kam nun Al’vahim das Schlitzohr zum Basar und betrachtete mit gespieltem Interesse die Auslagen. Sofort war Shik Sha’bah neben im und redete auf ihn ein, wie gut doch dieser oder jener Teppich geknüpft sei. Mehr noch, er pries sogar die Kunstfertigkeit der Weber, die ein solch filigranes Muster schufen, wie es selbst der Sultan nicht in seinem Palast hat… Dies hätte er sich besser verkneifen sollen, denn bei diesen Worten begannen die Augen von Al’vahim zu leuchten und er fragte unbedarft: „Kann er denn auch fliegen?“ Der Händler lachte laut auf: „Ob er fliegen kann? Oh, Du Sohn der Einfalt! Natürlich kann er das, genauso wie alle meine Teppiche.“, und bei sich dachte er, „Keiner meiner Teppiche kann fliegen, also habe ich nicht gelogen.“ Dies überzeugte Al’vahim und sie besiegelten den Handel. Am darauf folgenden Tag war eine große Parade zu Ehren des Sultans geplant, da dieser seinen 49. Geburtstag feierte, welcher - wie jeder weiß - das sieben mal siebte Jahr ist und somit das wichtigste Ereignis im Leben, da die Sieben eine heilige Glückszahl ist und alle Geburtstage, die ein vielfaches ihrer selbst sind, als Jubiläen gelten. So zum Beispiel das 4. Jahr (2 mal 2), das 9. (3 mal 3) usw. wobei jeder Abschnitt eine Besonderheit hat, wie zum Beispiel das 16. Jahr, welches als Jahr der Selbstüberschätzung gilt. Aber das nur am Rande. Jedenfalls feierten die Bewohner der Stadt ausgelassen die Herrschaft ihres gütigen Regenten. Al’vahim suchte sich einen Platz in der Nähe des Teppichhändlers - der natürlich in der ersten Reihe stehen musste - und als nun der Zug an ihnen vorbeikam, warf er sich zu Boden und pries den Sultan. Dann rief er, dass er ein magisches Geschenk habe und ihm einen fliegenden Teppich geben wolle. Der Händler wurde blass, sagte aber kein Wort. Sogleich trat ein Diener an den am Boden liegenden heran: „Der Sultan ist überaus erfreut und nimmt das Geschenk gerne an.“ Mit diesen Worten nahm er den Teppich und kletterte den Rücken des Elefanten hinauf, wo er den Teppich ausbreitete. Der Sultan setzte sich darauf und verkündete, dass er nun losfliegen werde. Nun wurde es Shik Sha’bah doch zuviel und er rief: „Vergebt mir Herr!“ Er warf sich jammernd zu Boden: „Vergebt mir! Dieser Sohn des Unglücks hat meine Worte missverstanden. Ich sagte ihm, dass dieser Teppich genauso fliegt, wie alle meine Teppiche, also überhaupt nicht. Er hat wohl in Trunkenheit der Freude angenommen, alle meine Teppiche würden fliegen.“ Der Sultan war sprachlos und sah auf die Beiden hinab: Al’vahim, welcher sich das Grinsen nicht verkneifen konnte und Shik Sha’bah der noch immer demütig am Boden kauerte. Da dämmerte ihm plötzlich, dass sich der Spaßvogel einen Scherz mit dem Händler gemacht hatte und lachte laut los. Als er sich wieder einigermaßen beruhigt und die Lachtränen aus den Augen gewischt hatte, verkündete er sein Urteil. An Al’vahim gewandt: „Du hast mich zwar in Dein gerissenes Schelmenstück einbezogen, doch hat es mich so sehr belustigt, dass ich darüber hinwegsehe. Was Dich betrifft“, sagte er zu Shik Sha’bah, „Dir wird das Recht genommen, einen Stand auf dem Basar zu belegen…“ Der Händler sah entsetzt zu seinem Herrscher auf, doch dieser fuhr ungerührt fort „…damit Du fortan als fliegender Teppichhändler auf dem ganzen Basar umherstreifen kannst, um Deine ‘garantiert nicht fliegenden Teppiche’ feil zu bieten.“ Damit war dem Recht genüge getan und die Parade zog unter lautem Jubel der Menschenmenge in den Palast ein. Unterdessen erhob sich Shik Sha’bah und hielt Ausschau nach Al’vahim, doch dieser war schon im Getümmel untergetaucht, um an einem anderen Ort seinen Schabernack zu treiben…